Der Fels, der nicht antwortete

von Markus Bodenmüller


Es war einmal eine Frau,
die suchte keinen Halt.
Sie hätte das Wort nie benutzt.

Sie suchte etwas, das nicht wankte.

Sie war lange durch Gegenden gegangen,
in denen alles in Bewegung war:
Stimmungen, Erwartungen, Bedürfnisse,
Menschen, die Nähe wollten
und sie im selben Atemzug wieder zurückzogen.

Als sie ihn traf,
war da etwas anderes.

Er war wie ein Fels.
Nicht laut.
Nicht grausam.
Nicht besonders zärtlich.
Aber fest.

Er stellte keine Fragen.
Er zweifelte nicht.
Er erklärte sich nicht.
Er stand.

Und sie,
die so viel fühlte,
so viel wahrnahm,
so viel trug,
lehnte sich an ihn –
nicht aus Liebe zuerst,
sondern aus Erleichterung.

Endlich etwas,
das sich nicht bewegte,
wenn sie sich bewegte.


Am Anfang war es leicht.

Seine Härte fühlte sich an wie Schutz.
Seine Unnahbarkeit wie Souveränität.
Seine Klarheit wie Richtung.

Wenn sie sprach,
hörte er zu –
aber er antwortete selten.

Wenn sie zweifelte,
blieb er ruhig –
nicht mit ihr,
sondern neben ihr.

Sie dachte:
So sieht Stärke aus.
Und vielleicht dachte sie auch:
Hier muss ich nicht alles halten.

Was sie nicht bemerkte:
Sie lehnte sich nicht an Nähe.
Sie lehnte sich an Stillstand.


Mit der Zeit begann etwas zu knacken.

Nicht laut.
Nicht dramatisch.
Eher wie Holz,
das langsam austrocknet.

Sie wurde leiser.
Nicht, weil sie nichts mehr zu sagen hatte,
sondern weil ihre Worte
nirgendwo landeten.

Sie wurde verständnisvoller.
Nicht aus Großzügigkeit,
sondern aus Hoffnung.

Denn irgendwo tief in ihr
lebte der Gedanke:

Wenn ich weich genug bin,
wird er weich.

Wenn ich bleibe,
wird er sich öffnen.

Wenn ich nichts fordere,
wird er freiwillig geben.

Das war kein Irrtum aus Dummheit.
Das war ein alter, treuer Reflex:
Liebe entsteht durch Aushalten.


Der Fels aber
blieb, was er war.

Nicht böse.
Nicht schuldig.
Ein Fels.

Er antwortete nicht,
weil er es nie gelernt hatte.
Er bewegte sich nicht,
weil Bewegung für ihn Gefahr bedeutete.

Seine Härte war kein Angriff.
Sie war eine Rüstung,
die er selbst nicht mehr ablegte.

Und so stand sie da,
Jahr um Jahr,
lehnte sich an etwas,
das nicht zurücklehnte.


Man sagt später über solche Frauen,
sie seien „gebeutelt“.

Aber das stimmt nicht ganz.

Sie sind nicht gebrochen,
weil man sie verletzt hat.
Sie sind müde,
weil sie zu lange gehalten haben,
wo nichts zurückkam.

Etwas in ihnen ist leise zerfallen:
nicht ihr Mut,
nicht ihre Klugheit,
nicht ihre Schönheit.

Sondern die Hoffnung,
dass Härte eines Tages
zu Wärme wird.


Es gibt einen Moment –
meist unspektakulär –
da tritt diese Frau einen Schritt zurück.

Nicht aus Wut.
Nicht aus Triumph.
Sondern aus Klarheit.

Sie spürt:
Ich lehne mich nicht an Halt.
Ich lehne mich an Abwesenheit.

Und zum ersten Mal
fragt sie nicht mehr,
was er noch werden könnte,
sondern
was sie braucht,
um wieder bei sich zu sein.


Vielleicht ist das das Märchenhafte daran:

Dass der Fels kein Bösewicht ist.
Und die Frau keine Närrin.

Dass beide Antworten sind
auf etwas sehr Altes.

Und dass Würde manchmal nicht darin liegt,
durchzuhalten –
sondern zu erkennen,
wann man sich an das Falsche gelehnt hat.

Nachklang

Vielleicht kannst du –
für einen stillen Moment –
in deinem Körper spüren:

Wo fühlt sich Spannung an wie Halt?
Und wo ist wirklich jemand da,
der antwortet,
wenn du dich anlehnst?

Mehr braucht es nicht.

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