Der Mann mit der geraden Linie

von Markus Bodenmüller


Es war einmal ein Mann,
der ging jeden Tag denselben Weg.

Er ging ihn gerade.
Ohne Abweichung.
Ohne Pause.

Die Menschen am Wegesrand nickten ihm zu.
„Verlässlich“, sagten sie.
„Diszipliniert.“
„Der kommt voran.“

Eines Tages blieb der Mann stehen.
Nicht aus Erschöpfung.
Nicht aus Zweifel.
Er blieb stehen,
weil etwas in ihm leise sagte:
Hier gehe ich nicht mehr weiter.

Die Linie vor ihm war klar.
Der Weg bekannt.
Der Schritt leicht.

Aber er trat nicht.

Die Menschen wurden unruhig.
„Reiß dich zusammen“, sagten sie.
„Du warst doch so gut unterwegs.“
„Jetzt nicht abbrechen.“

Der Mann hörte zu.
Nickte.
Und setzte sich.

Nicht trotzig.
Nicht beleidigt.
Einfach,
weil er merkte,
dass Gehen und Weitergehen
nicht dasselbe sind.

Am nächsten Morgen ging er einen Schritt zur Seite.
Nur einen.

Und etwas in ihm atmete auf.

Niemand klatschte.
Niemand bemerkte es.

Aber der Schritt
gehörte ihm.


Manche Anerkennung klingt warm
und fühlt sich trotzdem fremd an.

Sie lobt das Durchhalten.
Das Funktionieren.
Die sichtbare Linie.

Doch es gibt eine andere Qualität von Würdigung.
Eine, die nicht fragt,
ob etwas trägt,
sondern
ob es stimmt.

Disziplin lässt uns weitergehen.
Integrität lässt uns anhalten.

Das eine wird gesehen.
Das andere oft nicht.

Aber nur eines davon
gehört wirklich uns.

Würde entsteht nicht dort,
wo wir durchhalten,
sondern dort,
wo wir uns nicht länger verlassen.

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