Der Brunnen ohne Rand

von Markus Bodenmüller


In einem Dorf gab es einen Brunnen ohne Rand.
Er war tief,
und sein Wasser war klar.

Wer Durst hatte,
kam und schöpfte.
Manche tranken.
Manche wuschen sich.
Manche lehnten sich nur an
und blieben stehen.

Der Brunnen gab.
Und gab.
Und sagte nichts.

Eines Tages fiel jemand hinein.

Nicht, weil er es nicht gesehen hätte.
Sondern weil der Brunnen keinen Rand hatte.

Man half ihm wieder hinaus.

Erst danach
deckte man den Brunnen hastig ab.
Mit schweren Steinen.

Von da an war er sicher.
Aber auch verschlossen.
Niemand kam mehr ans Wasser.

Erst viel später
baute jemand einen niedrigen Rand.
Nicht hoch.
Nicht abweisend.
Gerade so,
dass man wusste,
wo man stand.

Der Brunnen blieb offen.
Und niemand fiel mehr hinein.


Vom richtigen Zeitpunkt der Grenze

Manchmal ist es so:
Man hält zu lange aus.
Man erklärt, versteht, trägt mit.
Man hofft, dass es sich von selbst reguliert.

Und irgendwann ist der innere Tank leer.
Dann entsteht keine Kontur –
sondern Notwehr.

Die harte Grenze ist dann kein Ausdruck von Klarheit,
sondern von Überforderung.

Grenzen sind kein Gegenspieler von Weichheit.
Sie sind ihr Halt.
Und genau deshalb
muss Härte nicht entstehen.


Essenz

Eine frühe Grenze verhindert,
dass spätere Härte nötig wird.

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