Der Wächter im Flur

Leben neben dem Zwang

von Markus Bodenmüller


In einem schmalen Haus am Rand der Stadt stand etwas Unsichtbares Wache.
Niemand hatte es eingeladen, niemand hatte es benannt.
Und doch richteten sich alle nach ihm, wie nach einer alten Uhr, deren Zeiger längst aufgehört hatten, sich zu bewegen.

Der Wächter stand im Flur.
Man konnte ihn nicht sehen, aber alle hörten seine Anwesenheit,
so wie man das Ticken einer Uhr hört, wenn man zu lange stillsteht.

Er bestimmte, wann man essen konnte.
Er entschied, wann Türen geschlossen genug waren,
und ob ein Licht noch einmal aus- und wieder eingeschaltet werden musste.

Er sprach nicht.
Er forderte nur Zeit.

Die Bewohner warteten.
Nicht aus Angst.
Aus Rücksicht.
Sie glaubten, der Wächter sei nervös und müsse beruhigt werden,
damit niemand etwas falsch machte.

Nur einer von ihnen begann, ohne seine Erlaubnis zu leben.
Ein junger Mann stand auf, während der Wächter noch prüfte,
ob der Herd wirklich ausgeschaltet war.
Er deckte Teller.
Nicht laut, nicht trotzig.
Er tat es einfach.

Ein Messer klirrte, und das Geräusch schnitt durch die Stille,
als hätte jemand das Ticken einer Uhr abgestellt.

Der Wächter wandte sich ihm zu.
Nicht wütend.
Erstaunt.
Denn zum ersten Mal musste er ohne Gehorsam existieren.

Der junge Mann blickte nicht zurück.
Er stellte einen Teller auf den Tisch.
Einen zweiten.
Ein drittes Glas.
Das Haus atmete anders,
als hätte es bemerkt, dass es schon immer Platz genug gehabt hatte.

Der Wächter blieb im Flur stehen.
Er war noch da.
Aber er hatte niemanden mehr, der ihm die Arbeit abnahm.


Wer mag, bleibt im Zauber.
Wer weiterliest, findet Wirklichkeit hinter dem Bild.

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