Das Kind und die vier Überlebensgeister
von Markus Bodenmüller
Es war einmal ein Kind, das am Rand eines Waldes lebte –
eines Waldes, der älter war als jede Geschichte,
und der Dinge wusste, die niemand laut aussprach.
Das Haus, in dem das Kind wohnte, war schmal
und machte Geräusche, die klangen,
als würde es manchmal vergessen zu atmen.
Das Kind kannte diese Geräusche gut.
Es wusste, wann Stille gefährlich
und wann Stille einfach nur Stille war.
Und so lernte es früh,
sich kleiner zu machen, als es war –
nicht aus Willen,
sondern aus Notwendigkeit.
Der Wald sah das alles.
Wälder sehen mehr, als Menschen glauben.
Und eines Abends,
als die Stimmen im Haus wie unruhige Vögel über den Zimmern flatterten,
trat das Kind hinaus.
Es stellte sich in den Atem des Waldes,
und da geschah es:
Die Luft wurde dichter.
Die Schatten rückten näher.
Und vier schimmernde Gestalten lösten sich aus dem Dunkel,
als wären sie ebenso aus dem Kind
wie aus dem Wald entstanden.
Man nannte sie die vier Überlebensgeister.
Nicht weil sie mächtig waren –
sondern weil sie kamen, wenn das Leben zu schwer wurde.
1. Der Erste Überlebensgeist: Rennen-Wie-Der-Wind
Er war groß und langbeinig,
wie ein vergessenes Reh, das sich in einen Windstrahl verwandelt hatte.
Seine Schritte machten keinen Laut.
Sein Fell bewegte sich,
selbst wenn die Luft stand.
„Wenn du willst,“ flüsterte er,
„trage ich dich fort.“
Doch das Kind senkte den Blick.
„Wohin?“ fragte es.
Der Geist schwieg.
Denn es gibt Orte, an die man fliehen kann –
und Häuser, in denen Türen zu nah stehen,
als dass Flucht überhaupt beginnen könnte.
Rennen-Wie-Der-Wind nickte nur.
Er kannte seine eigene Ohnmacht
und schämte sich nicht dafür.
2. Der Zweite Überlebensgeist: Federn-und-Faust
Er kam wie ein Funke.
Wie ein kleiner, zitternder Streifen Mut,
der versuchte, größer zu wirken, als er war.
Sein Fell stand in alle Richtungen,
als hätte er die Welt schon zu oft angefaucht
und nie Antwort bekommen.
„Ich mache dich stark“, sagte er.
„Ich mache dich laut.“
Doch im Haus hinter dem Kind bewegte sich etwas.
Ein Schatten.
Ein Schritt.
Ein unausgesprochenes Gewicht.
Und Federn-und-Faust wurde ganz ruhig.
Ein Funke, der wusste,
dass Feuer in engen Räumen gefährlich sein kann.
Also hockte er sich neben den Fuß des Kindes
und zählte leise bis zehn,
obwohl niemand wusste, warum.
3. Der Dritte Überlebensgeist: Still wie Stein
Er war kaum ein Tier und kaum ein Ding.
Mehr eine Gestalt aus Dunkelgrau,
mit Augen, die nicht blickten,
sondern warteten.
Wenn er kam,
spürte das Kind seinen Körper sich verengen,
als würde ein unsichtbarer Winter durch die Rippen ziehen
und die Wege nach innen schmaler machen.
Still wie Stein setzte sich vorsichtig auf die Brust des Kindes.
Er war schwer – nicht aus Absicht,
sondern aus Funktion.
Der Atem wurde flacher,
sanfter,
kaum noch zu bemerken.
Und es war seltsam tröstlich:
Denn wer so still ist,
kann von Lärm nicht mehr verletzt werden.
Still wie Stein sagte nie ein Wort.
Aber sein Schweigen war alt
und voller Kenntnisse.
4. Der Vierte Überlebensgeist: Bambi
Der letzte Geist kam immer zuletzt.
Vielleicht,
weil er am empfindlichsten war.
Vielleicht,
weil er genau wusste,
wann die Welt zu schwer wurde.
Er sah aus wie ein zu junges Reh,
das noch nicht recht verstanden hatte,
wie Beine zu funktionieren haben.
Sein Körper war weich wie nasses Moos.
Seine Haut schimmerte, als trüge sie Licht,
das nicht ihm gehörte.
Er stellte sich sehr nah neben das Kind,
so nah, dass ihre Atemzüge sich berührten.
Dann flüsterte er:
„Ich mache dich sanft,
damit niemand hart wird.“
„Ich mache dich lieb,
damit niemand lauter wird.“
„Ich mache dich weich,
damit niemand bricht.“
Und das Kind spürte,
wie seine Schultern sanken,
wie der Nacken dünner wurde,
wie die Augen größer wurden –
jenes große, glänzende Schauen,
das nach Frieden ruft,
ohne ein Wort zu sagen.
Bambi war nicht mutig.
Aber er war zuverlässig.
Er war der Geist,
der die Welt nicht veränderte,
sondern den Körper des Kindes
so geschmeidig machte,
dass die Welt es übersah
und darum verschonte.
Und das Kind?
Das Kind mochte Bambi nicht besonders.
Es mochte auch Still wie Stein nicht,
oder Federn-und-Faust,
oder Rennen-Wie-Der-Wind.
Aber es brauchte sie.
Nicht, weil sie gut waren,
sondern weil es ohne sie nicht ging —
so wie ein Wald den Regen duldet,
wenn die Wolken schwer sind
und kein anderer Wind kommt.
Doch manchmal, spät nachts,
wenn alles still war
and das Mondlicht über die Decke kroch
wie ein wandernder Gedanke,
stellte das Kind sich vor:
Wie wäre es,
einmal zu rennen?
Einmal zu brüllen?
Einmal einfach zu atmen,
ohne dass die Welt mitschreibt?
Und in diesen Nächten
setzten sich die vier Überlebensgeister
an das Fußende des Bettes.
Sie sahen das Kind an,
vorsichtig,
als wollten sie sich entschuldigen.
Vielleicht taten sie es auch.
Der Wald aber,
der alte, wissende Wald,
legte ein einzelnes Blatt aufs Fensterbrett.
Ein Blatt, das zu leicht war,
um zu reden,
aber schwer genug,
um zu erinnern:
Überlebensgeister retten.
Doch sie bestimmen nicht,
wer du wirst.
Wer mag, bleibt im Zauber.
Wer weiterliest, findet Wirklichkeit hinter dem Bild.