Wenn Wahrnehmung abgewiegelt wird
von Markus Bodenmüller
Nicht jede Verletzung entsteht durch Härte.
Manche entstehen dort,
wo Wahrnehmung übergangen, relativiert oder verallgemeinert wird.
Leise. Wiederholt. Wirkungsvoll.
Das Nicken
Das Kind erzählte etwas.
Nicht lang, nicht dramatisch.
Nur so viel, wie es gerade tragen konnte.
Der Erwachsene nickte.
Lächelte sogar.
„Ach, das ist doch nicht so schlimm“, sagte er.
Das Kind nickte auch.
Und erzählte es später niemandem mehr.
Wenn Resonanz fehlt
Wahrnehmung braucht kein Urteil.
Sie braucht Antwort.
Für ein Kind – und auch für einen Erwachsenen –
ist es entscheidend, ob das Eigene ankommt.
Nicht, ob es bestätigt wird.
Sondern ob es gespürt wird.
Wird Wahrnehmung regelmäßig relativiert,
lernt das Nervensystem etwas sehr Konkretes:
Zurückziehen. Glätten. Anpassen.
Nicht aus Schwäche,
sondern aus Klugheit.
So entsteht kein lauter Schmerz,
sondern eine stille Verschiebung nach innen.
Das Eigene wird vorsichtiger.
Leiser.
Und irgendwann prüft man nicht mehr,
ob etwas stimmt –
sondern ob es zumutbar ist, es zu zeigen.
Abgewiegelte Wahrnehmung hinterlässt selten Wut.
Sie hinterlässt Zweifel an sich selbst.
Der Raum mit den dünnen Wänden
Es gab einen Raum,
in dem die Wände sehr dünn waren.
So dünn, dass jedes Geräusch nach außen drang.
Die Menschen, die dort lebten,
lernten früh, leise zu sein.
Nicht aus Angst.
Sondern aus Rücksicht.
Mit der Zeit vergaßen sie,
wie laut ihre Stimmen eigentlich waren.
Manche glaubten sogar,
sie hätten nie eine gehabt.
Eines Tages setzte sich jemand in die Mitte des Raumes
und begann zu atmen.
Nicht hörbar.
Aber spürbar.
Die Wände blieben dünn.
Doch der Raum wurde größer.
Wahrnehmung verkümmert nicht durch Widerspruch,
sondern dort,
wo sie keine Resonanz findet.
6. Mini-Übung
30–90 Sekunden
- Lehn dich leicht an – an eine Stuhllehne oder eine Wand.
- Spür den Kontakt im Rücken.
- Lass den Atem dorthin sinken, ohne ihn zu lenken.
- Sag innerlich einen einfachen Satz, z. B.:
„So fühlt es sich gerade an.“ - Beobachte, ob etwas in dir darauf antwortet –
ein Gefühl, ein Atemzug, ein Nachlassen.
Das genügt.